Cover Folge 3 „Riedenkartell“ – Nebel in der Riede, gekippter Grenzstein, eingeritztes „Hüter“

 

Als der Regen nachließ, blieb ein Wort im Holz zurück: „Hüter“ – und eine Frage in der Riede.

Der Morgen hatte die Farbe von nassem Kalk. Die Kellergasse hielt den Atem an, und der Nebel hing so tief, dass selbst die Lichter im Hof leiser wurden. Auf unserem Presshausfass stand ein Weinkistl, roh und schwer, die Maserung wie die Lebenslinie einer alten Hand. Innen, unsauber ins Holz geritzt: „Hüter“.

„Wer schreibt so etwas und lässt es hier?“ fragte ich in den leeren Raum. Es roch nach kühlem Stein, Papierstaub und einer Nacht, die auf den Flaschen saß.

Lukas strich mit dem Daumen über die Kerbe, ohne sie zu berühren. „Einer, der Ansprüche schickt, bevor er Worte findet.“

Inspektor Pröll trat ein, als hätte ihn der Nebel gebracht. „Hüter oder Räuber – das entscheidet der, der schnitzt.“ Er drehte das Kistl. Auf der Unterkante glänzte eine Spur frischer Späne. „Neue Säge. Nicht hier geschnitten.“

Johann kam mit einer Mappe, die nach Amtszimmer roch. „Ein Antrag aus Wien“, sagte er. „‚Riedengrenze nach aktueller geologischer Lesart‘ zu korrigieren.“ Er klappte Pläne auf: Linien, Zahlen, Parzellen, die aussahen wie Inseln, die nicht schwimmen konnten. „Wenn das durchgeht, rückt die Bezeichnung hinauf – und ein Investor rückt ein.“

Der Gedanke machte mir den Boden kurz zu Wasser. „Und wer unterschreibt so etwas?“

„Offiziell der Nachbar“, sagte Johann. „Inoffiziell der, der ihm das Formular hingelegt hat.“

Wir gingen hinaus in die Riede. Der Nebel legte uns die Hände auf die Schultern, die Reben standen stramm wie eine stille Wache. Bei Grenzstein 14 war die Erde aufgerissen – zwei Finger breit, nicht der Rede wert, und doch war alles gesagt. Neben dem Stein: feines Sägemehl, hell wie Milch.

Pröll kniete, und der Nebel setzte ihm ein nasses Hütchen auf. „Nicht versetzt“, murmelte er. „Gekippt. Fürs Auge bewegt, fürs Maß fast gar nicht.“ Er zeigte auf eine flache Delle. „Hier lag eine Latte. Einer hat sauber gehebelt. Bilder für Akten.“

„Wer verschiebt einen Stein und glaubt, die Lage rutscht mit?“ fragte ich.

„Einer, der Etiketten lauter liest als Böden“, sagte Johann. „Gebt mir zwei Proben.“

Wir füllten im Windschatten der Mauer drei kleine Fläschchen: oberer Hang, unterer Zwickel, Nachbarseite. Johann roch, als würde er einen Satz auf Fehler prüfen. „Hier – Druck in der Mitte, kühle Länge. Dort – mehr Sonne, mehr Schulter. Und das dritte hat einen halben Schritt nach Süden gemacht.“

„Und was sagt uns das?“ fragte Lukas, obwohl er es wusste.

„Dass die CUVEE plaudert“, sagte Johann und lächelte schmal. „Wenn einer zu gierig mischt, bleibt der Akzent im Satz. Der Nachbar hat seine ‚Beweisflasche‘ im Keller gebaut, nicht im Boden.“

Sepp pfiff zwei Töne – sein „ich hab was gesehen“. „G’stern spät war Licht bei da Remis’n“, brummte er.

Die Remise roch nach Harz und Ausreden. Am Türstock: frische Kratzer. Drinnen: Nägel, eine Wasserwaage, eine Schnur, die klebte. Ein Stapel Kistlbretter. Eines hatte dieselbe Maserung wie unser „Hüter“. Ich hob es an, und irgendwo im Hof klirrte eine Flasche, weil die Welt Humor hat.

Am Feldkreuz stand der Nachbar, als würde er warten, dass ihm jemand sein Alibi bringt. Fingerknöchel aufgeschürft, Ärmel staubig.

„Schöne Früh“, sagte er, ohne zu schauen.

„Schöne Linien“, sagte Lukas.

„Ich hab den Stein nur gerade gerückt“, sagte der Nachbar. „Seit Jahren steht er schief.“

„Heute steht er schiefer“, sagte Pröll freundlich. „Und er steht in Ihrem Kopf an der falschen Stelle.“

Bevor er antworten konnte, rollte ein SUV an den Feldrand. Der Mann, der ausstieg, trug eine Jacke, die keine Jahreszeit brauchte. „Meine Herren“, sagte er. „Wenn wir uns auf eine moderne Lesart einigen, sind alle glücklich. Ich bin Herr K.“

„Moderne Lesart“, wiederholte Pröll. „Das ist ein schönes Wort für: Ich schiebe Zahlen, bis sie lächeln.“

Herr K. lächelte, als sei das ein Kompliment. „Die Marke gewinnt. Die Region auch. Und wenn ein Stein um einen Hauch… präzisiert wird…“

„…fällt irgendwann ein Haus“, sagte ich. „Steine sind nie allein.“

Der Nachbar trat von einem Fuß auf den anderen. „Ich wollte kein Theater“, sagte er leiser. „Nur, dass ihr merkt, was mir der Name bedeutet.“

„Namen sind Stühle“, sagte Lukas. „Wer sie zieht, sorgt für Stürze, nicht für Sitzplätze.“

Johann legte dem Nachbarn das Glas aus dem unteren Zwickel in die Hand. „Schau nicht aufs Etikett. Riech. Das ist der Ton, der hier wohnt. Den verschiebt kein Investor.“

Er roch. Und sein Gesicht veränderte sich um eine kleine, entscheidende Nuance – wie eine Waage, die endlich auf Null geht. „Ich rücke den Stein zurück“, sagte er. „Und das Kistl hole ich auch. Es war dumm.“

„Dumm ist heilbar“, sagte Pröll. „Böswillig ist teurer.“

Wir arbeiteten schweigend. Sepp brachte die Schaufel, Lukas die Latte, Johann die Wasserwaage, ich die Geduld. Der Stein seufzte, als er wieder saß. Der Nebel gab ein Stück Himmel frei.

„Der Antrag?“ fragte ich, als wir das Presshaus erreichten.

„Zurückgezogen“, sagte der Nachbar. „Ich schreibe’s heute. Mit meinen Worten. Ohne Ihre.“ Er sah Herrn K. nicht an, aber der verstand trotzdem.

„Dann suchen Sie sich eine andere Grenze“, sagte Pröll zu Herrn K. „Zum Beispiel Ihre.“

Herr K. fuhr. Der Hof atmete. Das Kistl lag wieder auf unserem Fass, und das Wort „Hüter“ war plötzlich weniger Drohung als Auftrag.

„Wir stellen’s aus“, sagte Lukas. „Nicht als Trophäe. Als Erinnerung, dass Hüten Arbeit ist.“

Frau M. filmte das Licht, das über die Kerben strich, ohne das Wort zu zeigen. „Nicht alles für die Timeline“, sagte sie. „Manches für die Leute.“

Später, als der Nebel in die Hecken kroch und der Hof wieder Stimme bekam, saßen wir auf den Stufen. Der Nachbar brachte zwei ehrliche Flaschen. Wir tranken ohne große Sätze. Die Riede lag vor uns, ruhig wie ein Tier, das weiß, wem es gehört: sich selbst.

Inspektor Pröll blätterte seinen Block um. „Rainer“, sagte er, „halte mir morgen die erste Stunde frei. Ich muss lernen, wie man Linien liest, die nicht auf Karten stehen.“

„Du fängst mit einem Glas an“, sagte ich. „Und hörst zu, bis es aufhört zu reden.“

Wir lachten, leise. Amseln gaben Applaus. Und irgendwo klapperte die Remise, als wäre ein alter Nagel gefallen – ein guter Schluss.


Fortsetzung folgt: E04 – Das Pfeifen der Tür am So, 02.11.2025, 19:00.

Zum Schlosshauptmann

weinvierterl