Am Abend der Lese lag derselbe Ton über dem Hang – und irgendwo fehlte plötzlich ein Schritt.
Die Nachtlese hat ihre eigene Ordnung. Stirnlampen schneiden helle Kerben in den Nebel, Scheren klacken wie ein Metronom, und irgendwo murmelt der Kühler ein tiefes „Alles gut“. Ich verteilte Wasser, zählte Reihen, tat so, als wäre ich nicht müde.
„Milan?“ rief Lukas irgendwann, nicht laut. Der Nebel verschluckte den Namen wie ein Geheimnis. Reihe sechs endete im Weiß, Reihe sieben begann nirgends.
„Grad no war er da“, sagte Nino. „Er hat g’lacht, weil Sepp die Ernteschnecke ‚die Langsame‘ genannt hat.“
Sepp pfiff zwei kurze Töne – sein „Achtung“. „Entweder Klo, Remise, Wasser – oda er is’ zum Pumpenhaus. Die Kanister dort san schwer wia a schlechtes Gewissen.“
„Wir teilen uns auf“, sagte Inspektor Pröll. „Rainer mit mir. Lukas mit Nino bleibt in Rufweite. Sepp, wenn’s brennt, pfeifst du in Dur.“
Wir gingen hangabwärts. Der Nebel war so dicht, dass der Boden nur während des Schritts existierte. Über dem Summen der Kühler lag ein Ton, der wiederkam wie ein Atemzug – ruhig, stur, hartnäckig.
„Hörst du das?“ fragte Pröll.
„Kein Tier“, sagte ich. „Keine Stimme. Eher… Technik.“ Ich schloss die Augen, damit der Ton größer wird. „Rechts von uns. Tiefer.“
Der Weg zum Pumpenhaus zieht eine alte Narbe durch den Hang. Die Tür stand nicht richtig zu – nur angelehnt, als hätte jemand gesagt: „Bin gleich wieder da“ und es nicht geschafft. Drinnen roch es nach Eisen Beton und Sommer, der nicht loslassen wollte.
Milan lag auf der Seite, ein Arm unter dem Kopf, der andere weggestreckt. Seine Stirn glänzte. „Luft“, sagte Pröll kurz. Sepp – er taucht immer im richtigen Moment auf – riss das kleine Fenster auf. Der regelmäßige Ton wurde lauter: die ENTLUEFTUNG kämpfte, aber die Tür hatte sie im Griff.
Am Regal neben der Tür fehlte der dunkle Kondensabdruck, den schwere Flaschen hinterlassen. Pröll fuhr mit dem Finger durch den Staub. „Hier stand kürzlich etwas Langes, Kaltes“, sagte er. „Nicht von heute.“
„Milan? Hörst du mich?“ fragte ich.
Er blinzelte, als würde er aus sehr tiefem Wasser auftauchen. „Bin… da.“
Wir setzten ihn auf, gaben Wasser, redeten Unsinn – die beste Sorte Worte, wenn die wichtigen klemmen. Sepp pfiff eine Tonleiter, langsam, von tief nach hoch, als teste er, ob die Welt noch zusammenpasst.
„Ich wollt nur füllen“, murmelte Milan. „Drinnen is’ kühler. Die Tür… is’ zu.“
„Ab heute macht sie’s nicht mehr allein“, sagte Lukas und legte ihm die Decke um die Schultern. „Und du trägst keinen Kanister mehr ohne Zweiten. Punkt.“
Pröll inspizierte die Klinke. „Die fällt von selbst zu, wenn die Dichtung müde ist. Abhilfe: Sperre Glocke, Schild. In dieser Reihenfolge.“
„A g’scheite Glock’n kriagst“, sagte Sepp. „So ane, die si aufregt, wenn ma’s selber vasummt.“
Wir saßen einen Moment am Türstock, drei Atemzüge lang nichts als Dankbarkeit. Der Nebel draußen tat, als wüsste er von nichts und räumte uns trotzdem den Weg frei.
Auf dem Rückweg erzählte Nino zur Beruhigung einen Witz, der keiner war. „Wie nennt man’s, wenn die Pumpe singt?“ – „Schlager“, sagte ich. – „Falsch“, grinste Nino. „Lebens Zeichen.“ Selbst Pröll lächelte, was ich mir für später notierte.
Im Hof saß Milan später auf dem Anhänger, Tee in der Hand, die Decke wie eine kleine Festung. Frau M. steckte das Handy weg. „Kein Content“, sagte sie. „Nur Leute.“
„Der Ton war derselbe wie in unserer Kühlraumtür“, meinte Pröll, der noch immer zuhörte, ob die Nacht etwas sagen will. „Nur müder. Wir schenken dem Pumpenhaus morgen eine bessere Luft Führung.“
„Und zwei Schilder“, sagte ich. „Eins draußen, eins drinnen: ‚Tür nicht ins Schloss fallen lassen‘.“
„Und a Glock’n“, ergänzte Sepp zufrieden. „Die schreit, wenn wer stur is.“
Als der Nebel sich hob, wurden die Reihen zu Sätzen, die wieder Sinn ergaben. Wir lasen die letzte Zeile der Nacht zu Ende. Jeder Schnitt war ein kleiner Dank.
Später, allein hinter dem Presshaus, war der Himmel schon hell. Der Hof roch nach kaltem Metall und einer Entscheidung, die hält. Ich legte die Hand an die Kühlhaustür. Kein Pfeifen. Nur Wind. Es gibt Nächte, die sind dafür da, dass der Tag weiß, was er zu tun hat.
Pröll blieb zurück, leuchtete den Spalt der Pumpenhaustür ab. Am Holz klebte hauchfeiner grauer Abrieb, in der Bohrung der fehlenden Klinke glitzerte Messing Staub. „Hier hat vor Kurzem wer gearbeitet“, murmelte er. „Und der Luftzug—der kommt nicht nur von der Tür.“
Er legte das Ohr an die Wand. Tief unten antwortete ein gleichmäßiges hmp… hmp…, als würde das Haus leise atmen.
„Sepp, wohin läuft die Leitung da unten?“
„Owa, des ziagt nunter zum Sektkella – erst d’Rüttel Pult, dann Pumpnhaus“, sagte Sepp. „Do schnauft seit zwoa Tog wås a bissl verkehrt.“
Am Türrahmen hing ein winziger, vergessener Edelstahl Ring wie ein Ohrschmuck der Maschine. Pröll hob ihn mit dem Fingernagel hoch, daneben eine kurze Feder, verbeult. Er steckte beides ein. „Morgen. Früh. Im Keller. Wir hören uns die Perlen an.“
Fortsetzung folgt: E06 – Perlage-Verschwörung am So, 30.11.2025, 19:00.
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